AVIVA-Berlin >
Kunst + Kultur
AVIVA-BERLIN.de im November 2024 -
Beitrag vom 28.07.2010
Renn wenn du kannst - Ein Film von Dietrich Brüggemann
Miriam Hutter
Dietrich und Anna Brüggemann beglücken uns mit einer höchst vergnüglichen temporeichen Komödie mit sozialkritischen Untertönen, in der eine Dreiecksgeschichte einmal (ganz) anders erzählt wird.
Jegliches Mitleid, oder auch Sympathie für den querschnittsgelähmten Ben (Robert Gwisdek) wird von Anfang an unterbunden, denn der Rollstuhlfahrer ist ein richtiges Ekel. In der allerersten Szene leitet der 26-jährige tyrannisch seinen Zivi an, gleichzeitig den Balkon aufzuräumen, ein Schiff aufzuhängen und ans Telefon zu gehen. Als der Zivi leblos am Boden liegt, nachdem er von dieser Mehrfachbelastung überfordert vom Tisch gefallen ist und Opfer eines Kurzschlusses wurde, wünscht Ben ihm lakonisch einen "schönen Feierabend".
Sein neuer Zivi Christian (Jakob Matschenz), der schon auf dem Weg zu Ben ist, wird das nicht mit sich machen lassen. Doch vorerst ist dieser noch auf der Straße und wird umweht von den losen Seiten der Magisterarbeit Bens, die sich in alle Winde verflüchtig hat als er auf den Balkon gerollt ist, um wie jeden Tag die junge Frau mit dem Cello vorbeiradeln zu sehen. Die nun wiederum überradelt beinahe Christian und landet kopfunter auf dem Erdboden.
So lernen sich Christian und Annika (Anna Brüggemann) kennen und es dauert nicht mehr lange, bis beide die Bekanntschaft von Ben machen werden. Christian als dessen Zivi und Annika als die heimlich von ihm vom Balkon aus verehrte junge Frau.
Der erste gemeinsam verbrachte Abend auf eben diesem Balkon ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, in der viel geredet und gelacht, zusammen geträumt und getrunken wird.
Problematisch wird es erst, als Christian und Ben sich eingestehen in Annika verliebt zu sein. Natürlich. Ben, der überzeugt davon ist, dass sich nur "Behinderte" oder "sehr, sehr, sehr merkwürdige Frauen" in ihn verlieben könnten rechnet sich zwar keine Chancen aus, ertragen kann er es aber dennoch nicht, dass Annika und Christian etwas miteinander anfangen.
Als sich dann aber zeigt, dass Annika sich auch zu ihm hingezogen fühlt, ändert sich für Ben alles. Sein Kampf, den er auf einer psychischen Ebene mit der Welt und mit sich selbst ausficht, tritt vor dem Hintergrund von Annikas Zuneigung immer deutlicher hervor.
Im Verlauf des Films wird Ben, wohl vor allem durch die beeindruckende schauspielerische Leistung von Robert Gwisdek, den ZuschauerInnen immer sympathischer. Das liegt daran wie dieser es versteht, die Komplexität seiner Figur darzustellen, die eben nicht nur ein Zyniker ist, sondern auch eine zarte Seite hat, die er auf höchst intelligente Weise zu unterdrücken sucht.
Das Traurige, aber auch Verständliche, das auch in dem beinahe zeitgleich in den Kinos startenden Film "Me too" zum Ausdruck kommt, ist das Gefangensein der sogenannten "Behinderten" im Normalitätsdiskurs: Diese führen die Grenzziehungen fort, indem sie die gleiche Unterscheidung zwischen "normal" bzw. "gesund" und "behindert" übernehmen und für sich selbst das Zusammensein mit einem "behinderten" Menschen ausschließen.
Dieses Thema wird in "Renn wenn du kannst" besonders dann angesprochen, als Ben Annika erzählt, dass er nicht länger mit ihr zusammen sein könnte, wenn sie aufgrund eines Unfalls von nun an im Rollstuhl sitzen würde.
Annika dagegen scheint sich loslösen zu können von dieser körperlichen Ebene, als sie in einer Sexszene (die aufgrund ihrer Authentizität besticht) nicht auf Bens "Behinderung" eingeht, sondern ihn mit seiner Vorstellung von Liebe konfrontiert.
Auch während des übrigen Films steht in der Beziehung Annikas und Christians zu Ben dessen Behinderung keineswegs im Vordergrund, sondern wird, wenn es die Situation erfordert, wie selbstverständlich mitgetragen. Mit unverblümter Direktheit, mit Wortwitz und Charme sind diese drei ProtagonistInnen ausgestattet, die, wenn es nötig wird, unumwunden "die Behinderung" thematisieren, aber doch so viel Wichtigeres zum Reden haben.
AVIVA-Tipp: "Renn, wenn du kannst" überzeugt mit seinen herausragenden HauptdarstellerInnen, die dem Film seine Authentizität verleihen, durch seine unterhaltsamen Dialoge und nicht zuletzt durch die Leichtigkeit, mit der das Thema "Behinderung" wie nebenbei verhandelt wird. Ein Rollstuhlfahrer, sein Zivi und eine Frau mit Cello, mehr braucht es manchmal nicht für einen guten Film.
Zum Regisseur: Dietrich Brüggemann 1976 in München geboren, beendete 2006 sein Regiestudium an der Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf" in Potsdam-Babelsberg. Sein Kurzfilm "Warum läuft Herr V. Amok?" lief erfolgreich auf zahlreichen Festivals, u.a. in der Panorama-Reihe der Berlinale 2003. Auf der Berlinale präsentierte er 2006 auch "Neun Szenen", seinen HFF-Abschlussfilm, einen Spielfilm aus nur neun langen Kameraeinstellungen, in der Reihe "Perspektive Deutsches Kino".
Zur Zeit bereitet er die Umzugskomödie "Drei Zimmer, Küche, Bad" vor, wieder nach einem gemeinsam mit seiner Schwester Anna verfassten Drehbuch.
Dietrich Brüggemann schreibt außerdem für das Filmmagazin "Schnitt", begleitet Stummfilme am Klavier und tritt gelegentlich für Regiekollegen als Schauspieler vor die Kamera, z. B. bei Hans-Christoph Blumenberg und Sven Taddicken.
Von Publikum und KritikerInnen schon bei seiner Welturaufführung während der diesjährigen Berlinale als Eröffnungsfilm der Perspektive Deutsches Kino gefeiert, wird "Renn, wenn du kannst" unter anderem auf folgenden weiteren Festivals präsentiert: Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern, wo er mit mit dem Nachwuchsförderpreis der DEFA-Stiftung und den Cinestar Award ausgezeichnet wurde, Filmfest Emden-Norderney, bei dem ihm der NDR Filmpreis für den Nachwuchs verliehen wurde, Festival des deutschen Films Ludwigshafen, Shanghai International Filmfestival, World Cinema Festival Montreal, Seattle International Filmfestival und Ciné-Festival en Pays de Fayence in Paris.
Renn, wenn du kannst
Deutschland 2009
Kinostart: 29. Juli 2010
Regie: Dietrich Brüggemann
Drehbuch: Anna und Dietrich Brüggemann
DarstellerInnen: Robert Gwisdek, Anna Brüggemann, Jakob Matschenz
Laufzeit: 112 Minuten
Verleih: Zorro Film
Weitere Infos zum Film sowie Interviews mit dem Regisseur und den DarstellerInnen finden Sie unter:
www.rennwenndukannst.de